23.10.2025, Startseite

„Ihr seid schuld, wenn es wieder passiert“

Mit einer szenischen Lesung erinnerte der Verein Walldorf solidarisch an die Deportation der Walldorfer Jüdinnen und Juden vor 85 Jahr ins französische Lager Gurs. Foto: Stadt Walldorf

Gedenken an die Deportation der Walldorfer Juden vor 85 Jahren

„Nach 72 Stunden Fahrt kamen wir im Lager Gurs an. Eine große Barackenstadt war für uns vorbereitet. Es dauerte fast eine Woche, bis wir endlich unser Gepäck bekamen. Es war im Freien aufgestapelt und völlig durchnässt. Außerdem waren viele Koffer aufgebrochen und alle Gegenstände von einigem Wert geraubt“, heißt es im Bericht eines Zeitzeugen der Deportation der 6500 Juden aus Baden, dem Saarland und der Pfalz am 22. Oktober 1940 in das französische Internierungslager Gurs. Als Nahrung habe man einen Viertelliter eines braunen Getränks, das Kaffee sein sollte, und 250 Gramm Brot pro Kopf und Tag erhalten. „Das Mittag- und Abendessen bestand gleichermaßen aus Rüben- oder Kohlsuppe, ab und zu angereichert durch kleinere Karottenstückchen. Anfangs schliefen wir alle auf Stroh, das auf dem Boden ausgebreitet war. Erst nach längerer Zeit erhielten wir Strohsäcke und freuten uns ob des gewaltigen Fortschritts.“

Mit Texten wie diesem erinnert der Verein Walldorf solidarisch auf dem Marktplatz gemeinsam mit mehr als fünfzig Zuhörerinnen und Zuhörern am 85. Jahrestag der Deportation an das schreckliche Geschehen, das sich nicht wiederholen soll. „Stellen wir uns vor, ein Überlebender wäre heute hier. Was würde er denken? Was er sagen, wenn er auf uns blickt?“, heißt es gegen Ende der szenischen Lesung, als die Organisatoren an den Stolpersteinen Rosen niedergelegt und einen Kreis aus Kerzen gebildet haben. „Ganz sicher würde er sagen: Euch trifft keine Schuld! Ihr könnt nichts für das, was damals geschehen ist. Aber ihr seid schuld, wenn es wieder passiert“, geben sie selbst die Antwort und Mahnung. Trotz Dauerregen haben alle Teilnehmer – unter ihnen auch Bürgermeister Matthias Renschler und der Erste Beigeordnete Otto Steinmann – ausgeharrt, haben die auch nach 85 Jahren immer noch betroffen machenden Texte auf sich wirken lassen und der zwischendurch eingespielten, dazu passenden Musik gelauscht.

„Bei der Sonderaktion am 22. Oktober 1940 wurden in Walldorf insgesamt 19 Juden unter Mitwirkung der Gemeindeschutzpolizei Walldorf, Rot, St. Leon und Leimen und mit vier Mann der Polizeireserve II festgenommen“, zitiert zu Beginn des Gedenkens eine Stimme vom Band die damalige Meldung des Gendarmeriepostens Walldorf. Melanie Herrmann gibt als Erzählerin den Hintergrund: „Am 22. Oktober 1940 wurden in einer sorgfältig geplanten, geheimen und überraschend durchgeführten Aktion der Gestapo und Polizei die rund 6500 Juden, die noch in Baden, der Pfalz und dem Saarland lebten, in das damals noch unbesetzte Vichy-Frankreich deportiert. Darunter waren 218 aus Heidelberg, 114 aus den Gemeinden des Landkreises und die letzten 19 Walldorfer Juden. Die Gauleiter von Baden und der Saarpfalz, Robert Wagner und Joseph Bürkel, wollten damit ihre Gaue als erste ‚judenfrei‘ melden. Die Walldorfer Juden erfuhren erst unmittelbar vor ihrer Festnahme, am Tag des jüdischen Laubhüttenfestes Chanuka, von ihrer Ausweisung. Sie durften nur das Nötigste packen, 30 Kilogramm Gepäck und 100 Reichsmark.“ Pfarrer Dr. Uwe Boch, Daniel Rose und Maximilian Himberger lesen weitere Texte, Aktive aus dem Verein und dessen Umfeld unterstützen bei der szenischen Umsetzung.

Sie verlesen die Namen aller 19 Walldorfer Jüdinnen und Juden, die nach Gurs deportiert wurden, erinnern in den Worten von Zeitzeugen an den Transport und die Zustände im Lager, das für die meisten nur eine Zwischenstation ist. „Sannchen Kramer und Moritz Mayer verstarben in Gurs. Der größte Teil der Walldorfer Juden wurde seit 1942 nach Osten in das Vernichtungslager Auschwitz weitertransportiert und dort ermordet. Die übrigen sind verschollen. Alles, was geblieben ist, sind die Stolpersteine.“ Dort, vor dem Haus Hauptstraße 15, wo im Jahr 2010 wie an fünf anderen Stellen in Walldorf die Stolpersteine von Gunter Demnig („Ich möchte Spuren sichtbar machen und damit Dinge und Ereignisse dem Vergessen entreißen“) gesetzt wurden, endet die würdige Gedenkstunde. „Wir gedenken heute der letzten 19 Walldorfer Jüdinnen und Juden. Sie wurden von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet.“