04.09.2023, Startseite

Das Ahrtal richtet den Blick nach vorne

Richard Lindner (vorne re.), Ortsvorsteher von Bad Neuenahr, führte die Besuchergruppe aus Walldorf durch die Stadt. Zwei Jahre nach der Flutkatastrophe hat sich im Ahrtal schon viel getan, der Wiederaufbau wird aber auch noch viel Zeit in Anspruch nehmen.
Foto: Stadt Walldorf

Zwei Jahre nach der Flut: Delegation aus Walldorf macht sich ein Bild der Lage

Es gibt sie tatsächlich, die Stellen in Bad Neuenahr-Ahrweiler, an denen es heute wieder so aussieht, als habe es die Jahrhundertflut in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 nie gegeben. Schön ist es hier. Doch schon ein paar Schritte später stößt der Besucher auf mehr oder weniger große Spuren der Zerstörung, auf leerstehende, baufällige, noch nicht renovierte Häuser, auf aufgerissene Straßen oder die Überreste von Brücken. Richtig augenfällig, was hier geschehen ist, wird es später bei der Fahrt durchs Tal, gerade an den engeren Stellen, an denen die Flutwelle besonders hoch gewesen ist und das Wasser mit seiner ganzen Wucht umso schlimmer gewütet hat: Straßenzüge liegen brach, viele Gebäude warten auch nach zwei Jahren noch auf den Abriss, Bagger und anderes schweres Gerät sind vielerorts im Einsatz – der Wiederaufbau geht voran, jedoch angesichts der Fülle an Aufgaben notgedrungen eher schleppend. „Wir sind auf dem Weg der Besserung“, fasst es der Erste Beigeordnete der Stadt, Peter Diewald, zusammen. „Wir haben noch viel vor in der Region“, richtet Richard Lindner, der Ortsvorsteher von Bad Neuenahr, den Blick nach vorne. Ein Optimismus und eine positive Einstellung, die in vielen Gesprächen zu spüren sind. „Das gehört jetzt zu uns, wir machen das Beste daraus“, sagt Winzerin Tanja Lingen.

Die Besucher aus Walldorf erleben „ein Wechselbad der Gefühle“, wie es der Erste Beigeordnete Otto Steinmann treffend für die kleine Gruppe aus Gemeinderat – Dagmar Criegee (FDP), Uwe Lindner (CDU), Hans Wölz (Grüne) und Lorenz Kachler (SPD) –, Verwaltung und Feuerwehr ausdrückt, die sich im Ahrtal ein Bild von der aktuellen Lage macht. Schon kurz nach der Katastrophe hatte der Gemeinderat eine Spende in Höhe von 100.000 Euro für den Wiederaufbau in der Region beschlossen. Die Walldorfer Feuerwehr, die im Juli 2021 zur Soforthilfe vor Ort gewesen war, hatte den Kontakt zu Richard Lindner hergestellt. Durch private und Vereinsspenden hatte sich die Summe bis zur offiziellen Spendenübergabe beim Spargelmarkt 2022 um weitere fast 4000 Euro erhöht. Unterstützt wurden mit je 10.000 Euro der Bürgerverein Beul, die Bürgergesellschaft Wadenheim, die Bürgergesellschaft Hemmessen, der Freundeskreis Turmkerze und der Reha-Sportverein Ahrweiler sowie mit rund 54.000 Euro der Förderverein der Feuerwehr Bad Neuenahr-Ahrweiler, dessen Wehren mit ihren Gebäuden in den Ortsteilen Heimersheim und Ahrweiler besonders stark von der Flut betroffen waren.

„Das soziale Herz der Republik ist intakt“, sagt Peter Diewald über die Unterstützung und Hilfe aus ganz Deutschland, die das Ahrtal in einem nie erwarteten Ausmaß erfahren habe. „Wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet“, erklärte er speziell an die Adresse der Delegation aus Walldorf. Und: „Wir sind froh, dass Sie hier sind.“ Ohnehin müsse sich niemand beim Besuch in der Region als eine Art „Fluttourist“ fühlen. „Wir sind froh um jeden, der zu uns kommt. Denn wir sind eine Tourismusregion.“ Das bestätigt David Bongart, Projektleiter Tourismuskonzept Ahrtal und stellvertretender Ortsvorsteher von Bad Neuenahr: „Wir haben uns relativ früh damit beschäftigt, wie wir wieder Gäste hierher holen können.“ Zwar sei noch längst nicht alles fertig, „aber man kann uns wieder besuchen“, und das guten Gewissens. Wie lange der Wiederaufbau dauern wird? „Acht bis zehn Jahre“, schätzt Richard Lindner. Das Problem sei oft weniger das Geld, es gebe einfach zu viele Dinge, die am besten sofort erledigt werden müssten. „Wir haben eine Liste mit 1500 Projekten gemacht“, sagt Lindner. „90 Prozent haben höchste Priorität.“ Trotz der Fülle an Aufgaben sei aber die Stadtverwaltung gegenüber der Zeit vor der Flutkatastrophe nicht personell aufgestockt worden. „Wer soll das alles bewältigen?“

Die Beispiele, die die Walldorfer Gäste vor Ort kennenlernen dürfen, hinterlassen tiefe Eindrücke. Kay Andresen hat noch vor der Katastrophe als Projektentwickler den Bau eines Inklusionshotels in Bad Neuenahr initiiert. Als die Flut kam, sei man noch im Rohbau gewesen. Für die Helfer der Feuerwehren, von THW und Rotem Kreuz aus ganz Deutschland habe man dann „ein Pre-Opening“ gemacht. Den Parkplatz habe man ein gutes Jahr lang mit einer mobilen Küche als Versorgungsstützpunkt genutzt. Ab Februar 2022 wurden Flutopfer im Hotel untergebracht, das sich heute im Normalbetrieb befindet. „Wir hatten 180 Gewerbetreibende in Bad Neuenahr, die betroffen waren“, berichtet Lindner. „140 sind bisher wieder zurück.“

Der Ortsvorsteher führt die Besucher durch die Straßen, an vielen Stellen wird fleißig gearbeitet. Wo die Gas-, Strom- und Wasserleitungen oder Kanäle erneuert werden müssen, werden gleich die Voraussetzungen für eine Erdwärmeversorgung geschaffen. Der Platz an der Linde wurde auf Initiative des Ortsbeirats mit 80.000 Euro aus privaten Spenden ansprechend neu gestaltet. „Das ist schön geworden, Herr Lindner“, sagt – fast wie auf Bestellung – eine Passantin. Apothekerin Katharina Jamitzky, die erst seit April wieder geöffnet hat, berichtet vom riesigen Aufwand, mit dem das 120 Jahre alte Mobiliar wieder hergerichtet worden ist. Überall ist der pfiffige Slogan „We Ahr Open“ zu sehen.

Ursula Bell, Rektorin der Grundschule Bad Neuenahr, die aus Walldorf mit zehn Whiteboards bedacht worden ist, zeigt, wie hoch das Wasser im Gebäude gestanden hat. „Hier war ein Fluss“, sagt sie. Der Keller ist bis heute nicht nutzbar, im Erdgeschoss sitzen die 356 Schüler an komplett gespendeten Möbeln. Nach der Flut habe das Kollegium „sechs Wochen durchgearbeitet“, um das Haus wieder für den Schulbetrieb herzurichten, erzählt die Rektorin, „das waren unsere Sommerferien“. Die Mensa ist in Containern ausgelagert, der Schulhof auch dank vieler Spenden komplett neu gestaltet. Fritz Moßmann, Vorsitzender der Bürgergesellschaft Hemmessen, zeigt den Besuchern die 1869 erbaute Kapelle Sankt Antonius und Sebastian, im Volksmund „Hemmesser Dom“ genannt. Mit der Spende aus Walldorf sei bisher „noch nichts geschehen“, berichtet er mit Bedauern in der Stimme, „die Arbeiten stocken“. Zumindest die Neugestaltung des Vorplatzes rund um eine vermutlich schon 1571 gepflanzte Winterlinde soll aber bald angegangen werden. Für die Kapelle selbst ist laut Moßmann künftig vor allem eine kulturelle Nutzung vorgesehen. „Hier fielen die Spiegel von der Wand“, blickt Catherine Lindner auf den Flutschaden in den Räumen zurück, die der Reha-Sportverein Ahrweiler nutzt. Über 100 Frauen nehmen nach ihren Worten die Angebote des Vereins wahr. Mit der Spende aus Walldorf habe man zur Überbrückung Räume anmieten und später neue Geräte beschaffen können. Nun habe man wieder einen Trainingsort, „an dem sich die Damen wohlfühlen“.

Marcus Mandt, Wehrleiter der Feuerwehr der Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler, schildert in seinem Vortrag akribisch, wie sich die Katastrophe abgespielt hat. Dass die Menschen im Ahrtal nicht davor gewarnt worden seien, wie oft behauptet, stimmt nach seinen Worten nicht. Nach einer entsprechenden Meldung des Deutschen Wetterdienstes hätten sich die Rettungsorganisationen schon „ab Montag vorbereitet“. Am Mittwoch habe man dann die Bevölkerung gewarnt, erst über das Internet, später auch mit Durchsagen: „Es könnte ein Unwetter kommen.“ Das sei zu diesem Zeitpunkt aber noch für den folgenden Vormittag vorhergesagt worden. Davon sei man auch abends noch lange ausgegangen, als zwischenzeitlich die Pegelvorhersage nach unten korrigiert wurde. Um 23.05 Uhr sei dann überraschend der erste Notruf („Personen auf dem Dach“) gekommen. „Das nehmen wir als Beginn der Katastrophe“, sagt Mandt. Die ausrückenden Rettungsfahrzeuge mussten in diesem Fall aber wegen der enormen Flutwelle wieder umkehren. „Wir hatten bis 6 Uhr morgens rund 1000 Einsätze“, erklärt Mandt, im weiteren Lauf des Tages habe sich diese Zahl auf 2500 erhöht. Von 120 Aktiven der Feuerwehr seien „70 selbst betroffen“ gewesen. In der ganzen Stadt habe es 74 Tote gegeben. Sein Fazit: „Darauf kann man sich nicht vorbereiten.“ Zu unberechenbar seien die Naturgewalten.

„Anspruchsvolle Ziele“ präsentiert David Bongart mit dem „nachhaltigen Tourismuskonzept Ahrtal 2025“. Man wolle „die nachhaltige und innovative Natur- und Weinregion in Deutschland“ werden. „Das, was wieder ist, wird schöner, als es 2021 war“, formuliert es Bongart. Der Tourismus, den man damit ankurbeln will, komme letztlich jedem zugute. „Was wir den Gästen anbieten, steht auch den Einheimischen zur Verfügung.“ Zu den gut 90 Projekten, die ausgearbeitet wurden und von denen sich zeigen muss, was verwirklicht werden kann, gehört unter anderem die Aufwertung der bestehenden Wanderrouten, des Rotweinwanderwegs und des Ahrsteigs. „Mein Lieblingsprojekt“ nennt Bongart die anvisierte Verbindung beider durch eine Hängebrücke an einer der schmaleren Stellen im Tal. Dass die herkömmlichen Radwege wieder hergestellt sind, wird wohl bis 2026 dauern, auch wegen der neu zu bauenden Bahnbrücken. Mountainbike-Touren in den Höhenregionen sollen früher möglich gemacht werden. Eine Seilbahn, ein Skywalk und Bergerlebnistouren sind einige der weiteren Projekte, die sich die Tourismusplaner vorstellen können.

„Beeindruckend“ nennt für die Walldorfer Gäste Otto Steinmann sowohl den Rück- als auch den Ausblick. „Wir wünschen Ihnen, dass Sie möglichst viel davon umsetzen können.“ Und er freut sich, dass die Hilfe aus Walldorf dazu ihren Beitrag leistet.