26.10.2022, Kultur & Freizeit

Das Tabuthema Demenz in die Mitte der Gesellschaft holen

Andrea Münch berichete an der Walldorfer Ideen-Insel über ihre Erfahrungen mit dem Modell-Projekt.
Foto: Stadt Walldorf

Walldorf beim "Demenz im Quartier-Tag" in Stuttgart vertreten

Nach fast zwei Jahren voller Ideen und Veranstaltungen nähert sich das Modellprojekt Demenz im Quartier seinem Ende. Walldorf hat zusammen mit den baden-württembergischen Kommunen und Quartieren Inzigkofen, Offenburg-Bohlsbach, Heilbronn-Böckingen und Ulm-Alter Eselsberg daran teilgenommen. Die Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg | Selbsthilfe Demenz ist Trägerin des Projekts. Sie unterstützt die Quartiere mit Projektgeldern und berät und begleitet sie während des gesamten Projektzeitraums. Zum Abschluss des Projekts hatte die Alzheimer Gesellschaft zum "Demenz im Quartier-Tag" nach Stuttgart eingeladen.

Unter den zahlreichen Teilnehmern war auch eine Delegation aus Walldorf dabei, zu der Bürgermeister Matthias Renschler und Andrea Münch von der IAV-Stelle zählten. Andrea Münch hat das Modellprojekt in Walldorf federführend begleitet und organisiert (siehe auch Seiten 6 und 7). An einer Ideen-Insel stellte sie den Projektverlauf in Walldorf vor und schilderte die Erfahrungen, die man im Laufe der zwei Jahre sammeln konnte. Sie hob besonders die zahlreichen Netzwerke hervor, die im Rahmen des Projekts entstanden sind und auf die man nachhaltig zurückgreifen könne.

Bei der Veranstaltung gab es eine Reihe von Rednerinnen und Rednern, die mit ihren Beiträgen sowohl das Projekt selbst als auch das Thema Demenz im Allgemeinen beleuchteten. Ute Hauser, Geschäftsführerin der Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg, sprach über die Aufmerksamkeit, die das Thema Demenz in der Gesellschaft brauche. „Wer mit Demenz vertraut ist, ist eher bereit, sich um Menschen mit Demenz zu kümmern.“ Im besten Fall könne man mit der Weitergabe von Wissen und Informationen „die Haltung der Menschen verändern“. Getreu dem Motto: „Wissen, verstehen, handeln.“

Wolfgang Weis, Mitarbeiter im Landes-ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration, sprach in Vertretung von Dr. Angela Postel, Leiterin des Referats Pflege, einige Grußworte. Man könne nur vor Ort auf die Bedürfnisse der Menschen eingehen, es gehe um den Auf- und Ausbau von Netzwerken und Strukturen, betonte Weis die Bedeutung der Kommunen. Er dankte allen Projektbeteiligten für ihren Einsatz. Von einem Abschluss wollte Wolfgang Weis aber nicht sprechen: „Es wird vieles weitergehen“, zeigte er sich überzeugt.

Bürgermeister Matthias Renschler legte seine Sicht über den Verlauf des Projekts in Walldorf dar. Wichtig sei es gewesen, Plattformen zu schaffen, über die sich Angehörige und Menschen, die von Demenz betroffen sind, austauschen können. Das sei unter anderem mit dem Café im Quartier gelungen. Renschler erwähnte auch den historischen Stadtspaziergang, mit dem man Menschen mit und ohne Demenz auf eine kleine Zeitreise mitnehmen konnte. Er hob außerdem die Fortbildung im Kommunalen Kindergarten zum Thema Demenz hervor und sprach die Schulungen an, die auch zahlreiche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadtverwaltung als bereichernd empfanden. Mit der Herausgabe des "Walldorfer Ratgeber Demenz" habe man Anlaufstellen und Ansprechpartner bekannt gemacht. Wichtig sei im Laufe des Projekts vor allem die aktive Bürgerbeteiligung gewesen, die das Projekt vorangebracht hätte. Matthias Renschler warb dafür, sich als Kommune mit dem Thema zu beschäftigen, Ressourcen zur Verfügung zu stellen und damit „das vermeintliche Tabuthema aus der Versenkung zu holen und dort zu behandeln, wo es hingehört: in die Mitte der Gesellschaft“.

Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Kruse, Alternsforscher und Seniorprofessor distinctus der Universität Heidelberg, beleuchtete das Thema Demenz aus wissenschaftlicher Sicht und sprach über die Voraussetzungen, die es brauche, um aus Quartieren gute Orte für Menschen mit Demenz zu machen. Er stellte Forschungsergebnisse vor und verband diese auch mit sehr persönlichen Erfahrungen. „Wir machen Demenzforschung auch, weil wir etwas über uns als Menschen vermittelt bekommen“, so Kruse. „Für Menschen mit Demenz ist der Augenblick wichtig“, gab der Experte zu bedenken. „Da darf man nicht ungeduldig sein.“ Er plädierte in seinem Vortrag außerdem für einen erweiterten Geist-Begriff: „Geist ist nicht nur das rein Rationale“ – das Ausdrucksvermögen äußere sich auch durch Verhalten und Gefühle. Andreas Kruse drückte sein „großes Kompliment für das Projekt“ aus. Es habe eine „Vorbildfunktion für unsere Gesellschaft“.

Saskia Gladis, Projektkoordinatorin „Demenz im Quartier“ bei der Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg, fasste das Modellprojekt, das insgesamt über drei Jahre lief, zusammen. Sie machte vier zentrale Erfolgsfaktoren aus: Sensibilisierung, Beteiligung, Vernetzung und Begegnung. „Wichtig war uns von Anfang an: sichtbar werden, Neugierde wecken, Wissen vermitteln“, so Gladis.

Dr. Veronika Anselmann, Juniorprofessorin für Pflegewissenschaft mit dem Schwerpunkt Pflegepädagogik am Institut für Pflegewissenschaft an der PH Schwäbisch Gmünd, sprach über die Evaluation des Projekts. Man habe Informationen gesammelt, ob die Ziele des Projekts erreicht wurden. Erste Ergebnisse zeigten, dass Netzwerke und Kooperationspartner entscheidend für die Demenzsensibilität seien. Bei der Zielgruppe sei eine Tendenz zu erkennen, dass in den Modellquartieren das Wissen um bestehende Angebote deutlich erhöht werden konnte. „Das zeigt, dass Sie ganze Arbeit geleistet haben“, so Dr. Veronika Anselmann.

Durch eine moderierte Erkundung wurden die Ideen-Inseln der beteiligten Kommunen vorgestellt. Verantwortliche und Beteiligte sprachen über zahlreiche Veranstaltungen und Projekte. Deutlich war der Tenor herauszuhören, dass man vieles auch zukünftig beibehalten und ausbauen möchte, was auf den Weg gebracht wurde. Im Anschluss daran nutzten die Anwesenden die Gelegenheit, die Ideen-Inseln selbst zu erkunden und mit den Beteiligten ins Gespräch zu kommen.