10.11.2022, Startseite

„Wir wollen die Erinnerung wachhalten“

In der ehemaligen Synagoge gedachten die Teilnehmer der Ereignisse der Pogromnacht im Jahr 1938.
Foto: Stadt Walldorf

Gedenken an die Ereignisse der Pogromnacht 1938 in Walldorf

„Schön, dass wir miteinander diesen Weg gegangen sind“, sagte Pfarrer Uwe Boch zum Abschluss des Gedenkens an die Pogromnacht, in der auch in Walldorf 1938 durch NS-Anhänger die Synagoge geschändet und verwüstet, die jüdische Schule in der Badstraße angegriffen sowie viele Wohn- und Geschäftshäuser von Juden zerstört worden waren. Evangelische Kirchengemeinde, Heimatverein und die Stadt hatten zum Gedenken am 9. November eingeladen, an dem sich auch die Geschichts-AG der Realschule, Konfirmanden, Bürgermeister Matthias Renschler, der Erste Beigeordnete Otto Steinmann, mehrere Gemeinderäte und viele Bürger beteiligten. Dass der Gang zu den Stolpersteinen mit den Namen der 1940 aus Walldorf nach Gurs deportierten jüdischen Mitbürger im strömenden Regen stattfand, bezeichnete Boch als „angemessen“. Am Ende wurden in der evangelischen Stadtkirche zu den Klängen des spontan von einigen Teilnehmern angestimmten Friedenswunsches „Hevenu shalom alechem“ („Wir wollen Frieden für alle“) Kerzen als „Licht der Erinnerung“ angezündet. „Wir wollen die Erinnerung wachhalten“, sagte der Pfarrer.

Der Weg zu den 20 Stolpersteinen, die 2010 von Künstler und Initiator Gunter Demnig in Walldorf verlegt worden waren, führte die trotz der widrigen äußeren Umstände erfreulich große Gruppe vom Start an der Kirche in die Sandstraße, an die vier Stolperstein-Stellen in der Hauptstraße und schließlich in die Apothekenstraße. Überall wurden weiße Rosen niedergelegt – eine stille Geste, die deutlich macht, wie wichtig das Erinnern ist, die aber auch die Verbindung zu Wachsamkeit und Zivilcourage knüpft, wie sie zu Zeiten des NS-Regimes die studentische Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ um Sophie und Hans Scholl verkörpert hat.

In der ehemaligen Synagoge erinnerte Andy Herrmann vom Heimatverein an die Geschehnisse der sogenannten Reichspogromnacht am 9. und 10. November 1938 in ganz Deutschland und Österreich, als über 1400 Synagogen in Brand gesetzt oder ebenso wie zahllose Häuser und Wohnungen jüdischer Einwohner verwüstet wurden. 30.000 Juden wurden ab dem 10. November in Konzentrationslager verschleppt, zwischen 1300 und 1500 Menschen im Zusammenhang mit den Novemberpogromen getötet. „Sämtliche jüdischen Synagogen sind zu sprengen oder in Brand zu setzen. Nebenhäuser, die von arischer Bevölkerung bewohnt werden, dürfen nicht beschädigt werden“, hat laut Herrmanns Bericht der Befehl der SA-Gruppe Kurpfalz an die untergeordneten Dienststellen gelautet. Übernommen haben den „inszenierten Volkszorn“ dann Mitglieder von SA und SS, teils in Zivilkleidung, um wie normale Bürger zu wirken.

In Walldorf wurde das Pogrom nach Herrmanns Schilderung durch ortsansässige Mitglieder der NSDAP und ihrer Gliederungen durchgeführt, Haupträdelsführer waren SS- und SA-Männer aus Heidelberg, Bruchsal und Wiesloch. Am Vormittag des 10. November wurde zunächst die Synagoge am Schlossplatz geschändet. „Zwischen 30 und 50 Personen drangen in das Gebäude ein und zerstörten die Inneneinrichtung.“ Die Thora-Rollen, die wichtigsten und heiligsten Gegenstände einer jüdischen Gemeinde, wurden verbrannt. Auch das Gebäude selbst sollte in Brand gesetzt werden, was der damalige Bürgermeister Fritz Leibfried unter Hinweis auf die Häuser mehrerer NS-Funktionäre rund um die Synagoge und die dichte Bebauung im Oberdorf verhinderte. „Es ging ihm lediglich um das Hab und Gut der ‚arischen‘ Walldorfer“, urteilte Herrmann. „Zur Demütigung der jüdischen Bevölkerung hissten die Nazis anschließend die Hakenkreuzfahne auf dem Turm der Synagoge“, sagte er.

Herrmann schilderte weiter, wie damals die jüdische Schule, mehrere Wohnhäuser sowie Fassaden und Fenster von Geschäften zerstört wurden. Alle männlichen Juden wurden nach seinen Worten für einen Monat ins Konzentrationslager Dachau verschleppt, bei der Rückkehr nach Walldorf seien sie von den unmenschlichen Bedingungen gezeichnet gewesen: „Traumatisiert, ängstlich und unterernährt.“ 66 Täter, ausnahmslos Männer aus Walldorf, sollen sich laut einer 1945 für die US-Armee angefertigten Liste an den Angriffen in der Pogromnacht beteiligt haben. „Wenige von ihnen kamen nach 1945 vor Gericht, sie erhielten eher milde Strafen“, schloss Herrmann. Ein langes Schweigen der Betroffenheit und des stillen Gedenkens folgte seinen Worten.