08.11.2023, Kultur & Freizeit

Zwischen tiefer Verzweiflung und kurzen Hoffnungsschimmern

Erzählten eine bewegende Geschichte: Friedrich E. Becht, Ursula und Anton Ottmann (sitzend v.li.) sowie Gert Weisskirchen (am Stehtisch re.).
Foto: Helmut Pfeifer

Szenische Lesung „Briefe gegen das Vergessen“ schildert Schicksal der Familie Oppenheimer

„Liebe Mutter, verzage nicht. Einmal wird über alle Menschen die Sonne wieder scheinen. Ob wir es erleben, steht nicht in unserer Macht.“ Ursula Ottmann leiht Rositta Oppenheimer ihre Stimme und gibt den Brief der in Walldorf geborenen Jüdin wieder, den diese 1940 ihrer bereits nach Südafrika emigrierten Mutter schreibt. Es ist der Auftakt der szenischen Lesung „Briefe gegen das Vergessen“ in der Laurentiuskapelle. Der Dielheimer Autor und Journalist Anton Ottmann, der selbst Leopold Oppenheimer spricht, hat sie aus über 200 privaten Briefen der Heidelberger Familie zusammengestellt. Weitere Mitwirkende am Vorabend des Gedenkens an die Geschehnisse der sogenannten Reichspogromnacht sind Friedrich E. Becht, der Hans Oppenheimers Briefe liest, und der ehemalige Bundestagsabgeordnete Prof. Gert Weisskirchen, der die Moderation übernimmt. Jüdische Lieder auf der Klarinette, die dieses Mal vom Band kommen, steuert Friedrich von Hohenstetten bei.

Die szenische Lesung erzählt die tragische Geschichte aus dem Leben einer jüdischen Familie, die sich so oder so ähnlich noch viele Male abgespielt haben mag. Die Oppenheimers lebten bis 1937 in Heidelberg, wurden dann gezwungen, auf das Gelände ihrer Tabakfabrik in Wiesloch zu ziehen. Im Oktober 1940 wurde das Ehepaar Leopold und Rositta (die 1892 als Rositta Kramer in Walldorf geboren wurde) zusammen mit seinem Sohn Hans 1940 in das südfranzösische Lager in Gurs deportiert. Hans kam von dort als Fremdarbeiter zu einem Bauern in 600 Kilometern Entfernung. Ohne sich jemals wiederzusehen, schrieben sie sich über einen Zeitraum von fast drei Jahren regelmäßig Briefe, in denen sie einander ihr Alltagsleben, ihre Sorgen und ihre Hoffnungen mitteilten. Leopold Oppenheimer starb 1943 im KZ Majdanek, Hans Oppenheimer am 17. März 1945 nach einem Todesmarsch vom KZ Auschwitz im KZ Buchenwald. Rositta Oppenheimer überlebte den Holocaust und kehrte 1946 nach Wiesloch zurück, wohin auch ein Jahr später der zweite Sohn Max aus England zurückkam.

Die Briefe zeigen starke Gegensätze: tiefe Verzweiflung hier, Hoffnungsschimmer dort, aber auch wachsendes gegenseitiges Unverständnis für die Lage des jeweils anderen, weil sich die Lebenswirklichkeiten ganz unterschiedlich entwickeln. „Erspare mir, dir unser schreckliches Elend zu schildern“, schreibt die Mutter. Viele Freunde und Verwandte seien schon gestorben. Der Moderator bringt die erbärmlichen Zustände in nicht geheizten Barracken, mit Ratten und Ungeziefer, mit schlechtem Essen, aber ohne Medikamente zur Sprache. Hans schildert dagegen seine neue Freiheit, bevor er zunächst als Holzfäller arbeiten muss. Sie seien in der Stadt bummeln gegangen, hätten Obst gekauft und spielten Billard. Und später: Es gebe so reichlich Essen, „dass uns beinahe der Bauch platzt“. Aber er klagt über die schwere Arbeit, die „wohl kaum Galeerensträflinge“ leisten müssten. Seine Mutter versucht, ihn mit ihren Briefen zu trösten, während er sich nach Gurs zurücksehnt.

Die Gegensätze werden noch größer, als Hans zu einem Bauern auf dessen Hof delegiert wird. „All das gute Essen ist hart verdient“, schildert er seinen langen Arbeitstag, nach dem ihm „Wein, Speck, Käse und Brot“ aufgetischt werden. Die Eltern beneiden ihn um seine Freiheiten, schreiben über ihre Versuche, in die USA oder ein anderes Land ausreisen zu dürfen, und bitten immer häufiger, ob er ihnen nicht etwas zu essen schicken kann. „Es ist hier bitterkalt“, schreibt die Mutter im November 1941 aus Gurs. Und: „Wenn du einmal deine Sachen nicht aufessen kannst und ein Stücklein Brot nicht essen willst, wieso kannst du es nicht schicken?“ Während Hans sich auf dem Bauernhof immer wohler fühlt, schreiben seine Eltern über den täglichen Kampf um Nahrungsmittel. Er schreibt, ihm falle es schwer, vom Bauer „auch noch etwas zu erbitten“. Und er fragt seine Eltern nach einem Paar Schuhe. Leopold dringt auf Obst „und vielleicht auch etwas Brot“. Im Januar 1942 meint die Mutter: „Uns krümmt sich der Magen vor Kummer“, nachdem Hans wieder einmal aus seinem weit angenehmeren Alltag berichtet hat. Gleichzeitig muss er den Eltern klarmachen, dass es für sie keine Möglichkeit geben wird, ebenfalls beim Bauern zu arbeiten, der ihn beschäftigt.

1942 geht es für die Eltern ins Lager Noé, eine klare Verbesserung, mit mehr Sauberkeit und zumindest anfangs besserem Essen. Hier keimt etwas Hoffnung auf. Von einem Spaziergang schreibt Rositta: „Beinahe habe ich geglaubt in Schlierbach zu sein, nur so schön wie am Neckar ist es nicht.“ Dann wird der Vater krank, Hans hat „schlaflose Nächte, wie ich euch helfen könnte“. Er bemüht sich um die Erlaubnis, die Eltern besuchen zu dürfen. Doch im Sommer 1943 beginnt der Transport in die Vernichtungslager, die bereits erteilte Erlaubnis wird aufgehoben. Hans kommt erst nach Fort Barroux, später zurück nach Deutschland. Der Vater wird – wie alle jüdischen Männer – von Noé nach Gurs zurück transportiert. „Ein Schrei der Verzweiflung, ein Wimmern ging durch das Lager“, beschreibt die Mutter das Entsetzen. Schließlich wird Leopold in Majdanek bei Lublin ermordet, nur Rositta überlebt. „Es kann nicht sein, dass auch du mir für immer genommen bist“, schreibt sie 1946 ins Tagebuch ihres Sohnes. Erst Jahre später erfährt sie, wie und wann Hans gestorben ist.

Zum Abschluss verneigen sich die vier Akteure, das Publikum zollt der intensiven Schilderung und bewegenden Geschichte seinen Respekt, indem es auf Applaus verzichtet und noch einige Augenblicke andächtig verharrt. Anton Ottmann arbeitet an einem Buch über die Lebensgeschichte der Familie Oppenheimer, das im kommenden Jahr erscheinen soll.