10.11.2023, Leben in Walldorf

Deutliches Signal gegen Antisemitismus

Andy Herrmann (li.) und Pfarrer Uwe Boch erinnern beim Rundgang durch Walldorf an die schrecklichen Ereignisse der Pogromnacht.
Foto: Stadt Walldorf

Gedenkveranstaltung am 85. Jahrestag der Reichspogromnacht

„Wenn das heute wieder passiert, dann darf das einfach nicht sein“, sagt Pfarrer Uwe Boch zum Abschluss der Gedenkveranstaltung, zu der die evangelische Kirchengemeinde und der Heimatverein am 85. Jahrestag der sogenannten Reichspogromnacht eingeladen haben. Ungefähr 120 Menschen sind dem Aufruf gefolgt und haben bei einem Rundgang durch die Walldorfer Innenstadt Orte aufgesucht, die im Leben jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger eine wichtige Rolle gespielt haben und die von den schlimmen Geschehnissen der Pogromnacht besonders betroffen waren. Die fachkundigen Erläuterungen steuert Andy Herrmann bei, der würdige Abschluss findet in der evangelischen Kirche statt. Die Teilnehmer entzünden Kerzen, die zusammen einen Davidstern bilden.

Pfarrer Boch dankt allen und ruft dazu auf, konsequent gegen Antisemitismus einzustehen. „Ich wünsche Ihnen, dass Sie immer den Mund aufmachen, wenn es nötig ist“, sagt er. Denn angesichts des aktuellen Leids von Juden und Palästinensern nach dem Terror-Angriff der Hamas auf Israel sowie der antisemitischen Kundgebungen und Parolen in Deutschland und weltweit dient die Veranstaltung nicht nur dazu, die Erinnerung an die Vergangenheit wachzuhalten. „Wir müssen heute leider tatsächlich in unsere Gegenwart schauen“, sagt der Pfarrer. Dass so viele Walldorferinnen und Walldorfer an der Veranstaltung teilnehmen, wertet er als deutliches Signal gegen Faschismus und Antisemitismus.

„Der Antisemitismus ist nicht mit den Nazis vom Himmel gefallen“, macht Andy Herrmann deutlich, dass es Hass und Feindschaft gegenüber Juden schon weit früher gegeben hat. Doch mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 gingen diese auch in Walldorf aktiv gegen die jüdischen Einwohner vor: sei es mit der Entscheidung, das rituelle Schächten zu untersagen, oder einem Gemeinderatsbeschluss von 1935, der den Zuzug von Juden nach Walldorf verbot. Eine gesetzliche Grundlage gab es dafür zwar nicht, aber das Plazet von höherer Stelle. Herrmann zitiert NSDAP-Kreisleiter Wilhelm Seiler: „Die Maßnahmen des neuen Reiches und insbesondere der Parteistellen gehen darauf hinaus, die Juden in Deutschland wirtschaftlich genau wie in jeder anderen Beziehung auszurotten.“ Weitere Beispiele: Im Gasthaus „Zur Post“ hing ein Schild mit der Aufschrift „Juden unerwünscht“, das NSDAP-Hetzblatt „Der Stürmer“ wurde in einem Kasten zwischen dem Gasthaus „Zum Lamm“ und der damaligen Sparkasse öffentlich ausgehängt.

Die Pogromnacht, mit der NS-Anhänger am 9. November 1938 in einer konzertierten Aktion jüdische Einrichtungen in ganz Deutschland und Österreich angriffen, über 1400 Synagogen, Betsäle oder Versammlungsräume in Brand setzten oder demolierten, rund 7500 Geschäfte jüdischer Händler zerstörten sowie Häuser und Wohnungen jüdischer Einwohner verwüsteten, fand in Walldorf mit einem Tag Verspätung am 10. November statt. „Jedoch nicht weniger brutal als in anderen Städten und Gemeinden“, erinnert Herrmann. Angestiftet und organisiert durch höhere SA- und SS-Führer hatten ortsansässige Mitglieder der NSDAP und ihrer Gliederungen sowie aus Bruchsal und Wiesloch angereiste Nazis das Pogrom durchgeführt. „Einige der Beteiligten trugen keine Uniformen. Dadurch sollte suggeriert werden, dass es sich um einen spontanen Aufstand der Bevölkerung handelte“, den sogenannten „Volkszorn“.

Erste Station des Rundgangs nach dem Start auf der Drehscheibe ist das Haus in der Hauptstraße 10. Herrmann berichtet, dass hier in der Pogromnacht die Scheiben des Schuhgeschäfts von Nanny Weil eingeschlagen, Schuhe auf die Straße geworfen und angezündet wurden. Für die Inhaberin, der mit einem Stolperstein vor ihrem letzten Wohnort in der Hauptstraße 26 gedacht wird, der „Anfang vom Ende“ ihres Geschäfts, das sie am 31. Dezember 1938 schließen musste. Die im Haus von Nanny Weil lebende Jüdin Anna Klein „erhängte sich unter dem Eindruck des Pogroms am 11. November“, so Herrmann.

An der ehemaligen Synagoge erinnert Andy Herrmann daran, dass am Vormittag des 10. November zwischen 30 und 50 Personen in das Gebäude eingedrungen waren, die Inneneinrichtung zerstörten und die Thora-Rollen verbrannten, die heiligsten Gegenstände einer jüdischen Gemeinde. Dass das ganze Gebäude in Brand gesetzt wurde, verhinderte der damalige Bürgermeister Leibfried, „jedoch nicht aus Gründen einer generellen Ablehnung des Pogroms“, wie Herrmann berichtet. Vielmehr habe er befürchtet, dass das Feuer auf andere Häuser im eng bebauten Oberdorf hätte übergreifen können, darunter auch die Häuser „alter Parteigenossen“. Schließlich „hissten die Nazis eine Hakenkreuzfahne auf dem Turm des Gotteshauses“, als für jeden sichtbares Zeichen der Demütigung der jüdischen Einwohner.

Herrmann erinnert an den Angriff auf das Haus von Sannchen Kramer in der damaligen Horst-Wessel-Straße, der heutigen Hochholzerstraße. Möbel und andere Gegenstände seien auf der Straße verbrannt worden. Das Vorhaben, das ganze Haus in Brand zu stecken, verhinderte die Besitzerin, indem sie „auf der Straße niederkniete“ und die Täter anflehte, davon abzulassen. In der Badstraße 8, letzter Station des Rundgangs vor dem Abschluss in der Kirche, „attackierte der antisemitische Mob auch die jüdische Schule und das dort untergebrachte Bad“, so Herrmann. „Die Schule konnte danach nicht mehr genutzt werden.“ Das Bad, die „Mikwe“, sei später entweiht worden. 66 Walldorfer, ausnahmslos Männer, sollen sich laut einer im Mai 1945 für die US-Armee angefertigten Liste an den Angriffen während des Pogroms beteiligt haben. Nur wenige kamen nach 1945 vor Gericht. Sie erhielten vergleichsweise milde Strafen.